FREELANCE WONDERLAND

2022-11-04T07:07:32+00:00Oktober 30, 2022|11 Kommentare

Das Atlantis-Kammerorchester ist in Insiderkreisen ein Geheimtipp, und genau da liegt das Problem. Von der künstlerischen Exklusivität werden zwar immer wieder die besten Musiker angezogen, aber irgendwann ziehen sie weiter, auf der Suche nach einer Gage. Der Dirigent sieht dieses Weiterziehen künstlerisch, schließlich lässt sich das Lebendige nicht festhalten – Kunst ist Ausdruck des Lebens und damit auch des Sterbens. Sogar Wagner wollte sein Festspielhaus eigentlich nur für die Ring-Premiere nutzen und danach wieder einreißen. Das Orchester muss nur einen König Ludwig finden, der diesen natürlichen Prozess finanziert.

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Das Atlantis-Kammerorchester ist in Insiderkreisen ein Geheimtipp, und genau da liegt das Problem. Von der künstlerischen Exklusivität werden zwar immer wieder die besten Musiker angezogen, aber irgendwann ziehen sie weiter, auf der Suche nach einer Gage. Der Dirigent sieht dieses Weiterziehen künstlerisch, schließlich lässt sich das Lebendige nicht festhalten – Kunst ist Ausdruck des Lebens und damit auch des Sterbens. Sogar Wagner wollte sein Festspielhaus eigentlich nur für die Ring-Premiere nutzen und danach wieder einreißen. Das Orchester muss nur einen König Ludwig finden, der diesen natürlichen Prozess finanziert.

Im Zuge der Suche nach König Ludwig sind bereits einige ambitionierte Kulturmanager verschlissen worden. Sie schlugen Strategien vor, das Orchester bis zur Ankunft des Königs zu finanzieren, aber da hatten sie die Rechnung ohne den Dirigent gemacht. Sie brachten ihn zur Weißglut mit ihren kommerziellen Kompromissen, einer zettelte sogar die Kooperation mit einem Zirkus an. Bei der ersten Show wurde der Dirigent fast in einen Löwenkäfig gesperrt, und nach der zweiten hatte das Orchester eine Klage am Hals. Seitdem ist mit solchen Anbiederungen an das Massenpublikum Schluss.

Beim heutigen Projekt braucht man sich diesbezüglich keine Sorgen zu machen: Geplant ist die Aufnahme von Alban Bergs lyrischer Suite. Vorher spielen wir sie im Konzert und begleiten eine aufstrebende Stargeigerin bei Mozarts A-Dur-Violinkonzert. Für das Projekt wurden weder Kosten noch Mühen gescheut, die besten Musiker aus aller Herren Länder sind angereist. Im Moment warten wir allerdings noch auf Luigi, den Bassisten. Er hat die Notenständer im Auto, ist aber zum falschen Probenort gefahren.

Zum Konzert kommt übrigens eine Bekannte des Dirigenten von der Deutschen Grammophon. Unklar ist, ob sie für das Orchester oder für die Stargeigerin kommt, aber wenn sie uns erstmal hört, spielt das keine Rolle mehr. Es gibt noch eine weitere gute Nachricht: Freifrau von M. hat angeboten, die Schirmherrschaft für das Sommerfestival zu übernehmen. Also, bessere Kontakte kann man nicht haben! Bleibt nur die Unwägbarkeit, wie sich die Freifrau mit dem Dirigenten vertragen wird. Seine radikalen Thesen, je nach mentalem Zustand hitzig oder suizidal vertreten, haben bisher die meisten potentiellen Förderer verschreckt. Erst kürzlich hielt er dem Geschäftsführer der lokalen Sparkasse einen Vortrag zur Abschaffung des Geldes.

Endlich erscheint Luigi mit wehendem Mantel, die Probe kann beginnen. Jetzt geht es um Alban Berg und nichts als das! Mal nur das Trio estatico. Mal nur im viertel Tempo. Mal nur die Geigen. Mal nur die ersten Pulte. Mal nur jeder für sich mental. Mal nur die rhythmische Gestalt! Jetzt alle zusammen, die Töne sind erstmal egal…

Nächster Tag, Abendprobe. Der Dirigent ist in aufgekratzter Stimmung, das Niveau steigert sich beängstigend. Warum haben wir eigentlich noch sieben Proben? Was für eine Frage, wo wir gerade dabei sind, Musikgeschichte zu schreiben! Die Aufnahme wird den Namen des Orchesters in die Musikwelt hinauskatapultieren – es muss unverwechselbar, durchsichtig, strukturiert, intelligent, zukunftsweisend und hochwertig klingen. Die Probe erreicht jetzt die entscheidende Stelle. An ihr sind sämtliche Musiker der Welt gescheitert, aber wir kriegen mit unserer Lösung jetzt den Grandprix du disque. Man muss nur anders zählen, wir haben ja Zeit.

Übrigens, dass niemand vergisst, die Stühle nach der Probe wieder genau wie vorher hinzustellen, das Altersheim überlässt uns sonst den Festsaal nicht mehr. Weiß jemand noch, wie sie gestanden haben? Für morgen gibt es noch eine kleine Änderung, wir proben außerhalb von R. Es gibt genügend Autos, wenn wir Fahrgemeinschaften bilden. Ach so, wer fährt denn jetzt mit wem?

Fünf Tage später. Endlose Proben und das Konzert liegen hinter uns. Wir richten uns in einer kleinen Kirche am Stadtrand für die Aufnahme ein — im milchigen Dämmerlicht sind die Noten allerdings so gut wie überhaupt nicht zu sehen. Der Manager, der in maximalem Abstand zum Dirigent auf einer Kirchenbank sitzt, steht auf und verspricht, für Licht zu sorgen. Eine Ewigkeit später kommt er mit drei Halogenstrahlern zurück, die allerdings erst zusammengebaut werden müssen. Es bilden sich Arbeitsgemeinschaften um jeweils eine Lampe. Verpackungsmaterial und Kabel liegen zwischen abgelegten Instrumenten auf dem Boden, eine Verlängerungsschnur umwickelt den Hals eines Guarneri-Cellos wie eine Boa Constrictor.

Die Lampen der Geigen leuchten zuerst, aber sie hatten auch das einfachste Patent. Bei den Bratschen wird noch diskutiert, die Lampe der Celli scheint kaputt. Vielleicht sind aber auch Montageelemente der Bratschen- und Cellolampe durcheinander gekommen. Am besten, wir bauen beide Lampen nochmal auseinander und fangen von vorne an. Der Dirigent beschimpft währenddessen den Manager als Nichtsnutz und Versager, die Geigen fitzeln dazu ihre Stimmen im neu erstrahlten Lampenlicht vor sich hin. Irgendwann taucht der Küster im Eingang auf, er würde gern demnächst die Kirche zusperren.

Nächster Tag. Erfolg auf der ganzen Linie. Tagsüber werden die Lampen nicht gebraucht, es herrscht volles Sonnenlicht. Der Tonmeister navigiert gelenkig wie ein Tintenfisch durch die Stimmungskurve des Dirigenten, gegen Abend haben wir die Suite bis auf wenige Abschnitte vollständig aufgenommen. Den Rest schaffen wir mit Leichtigkeit am morgigen Vormittag. Heute Abend ist außerdem noch ein geheimer Zahlungstermin für diejenigen, deren Geduld mit der permanenten Managementkrise zu Ende ist – sie spielen nur noch gegen Cash. Die Auszahlung erfolgt diskret hinter der Kirchenmauer, atmosphärisch schwankend zwischen Gangster-Glamour und Verlegenheit.

Am nächsten Morgen finden wir uns frühzeitig ein, um den letzten Teil der Aufnahme in Angriff zu nehmen. Aus der Kirche tönen allerdings mühsame Chorgesänge, der Seiteneingang ist verschlossen. Ratlos stehen wir herum, als um die Ecke wütende Schreie hörbar werden und eine Autotür knallt. Mit quietschenden Reifen fährt der Dirigent an uns vorbei. In der Kirche findet heute ein Gottesdienst statt, wie angeblich immer schon angekündigt. Das Equipment des Tonmeisters säumt die singende Gemeinde, in einer Ecke hinter dem Altar stehen unsere Notenständer. Für die Produktion sind die Musiker von überall angereist, die meisten haben ihren Rückflug für den Nachmittag gebucht. Die Lyrische Suite mit dem Potential für den Grandprix du Disque bleibt also unvollendet. Das Material schlummert im Laptop des Dirigenten neben der empörten Korrespondenz mit dem Tonmeister.

Obwohl das Konzert ein voller Erfolg war, hat sich die Frau von der Deutschen Grammophon dann doch vor allem für die Stargeigerin interessiert. Dafür kam nach dem Konzert der vielversprechende Kontakt mit dem ehemaligen CDU-Landesvorsitzenden zustande – er liebt klassische Musik über alles und hat früher sogar selbst mal Geige gespielt. Vielleicht heisst er ja mit Vornamen Ludwig? Dann müsste man ihm nur noch das Leben und Sterben in der Kunst erklären.

Im Zuge der Suche nach König Ludwig sind bereits einige ambitionierte Kulturmanager verschlissen worden. Sie schlugen Strategien vor, das Orchester bis zur Ankunft des Königs zu finanzieren, aber da hatten sie die Rechnung ohne den Dirigent gemacht. Sie brachten ihn zur Weißglut mit ihren kommerziellen Kompromissen, einer zettelte sogar die Kooperation mit einem Zirkus an. Bei der ersten Show wurde der Dirigent fast in einen Löwenkäfig gesperrt, und nach der zweiten hatte das Orchester eine Klage am Hals. Seitdem ist mit solchen Anbiederungen an das Massenpublikum Schluss.

Beim heutigen Projekt braucht man sich diesbezüglich keine Sorgen zu machen: Geplant ist die Aufnahme von Alban Bergs lyrischer Suite. Vorher spielen wir sie im Konzert und begleiten eine aufstrebende Stargeigerin bei Mozarts A-Dur-Violinkonzert. Für das Projekt wurden weder Kosten noch Mühen gescheut, die besten Musiker aus aller Herren Länder sind angereist. Im Moment warten wir allerdings noch auf Luigi, den Bassisten. Er hat die Notenständer im Auto, ist aber zum falschen Probenort gefahren.

Zum Konzert kommt übrigens eine Bekannte des Dirigenten von der Deutschen Grammophon. Unklar ist, ob sie für das Orchester oder für die Stargeigerin kommt, aber wenn sie uns erstmal hört, spielt das keine Rolle mehr. Es gibt noch eine weitere gute Nachricht: Freifrau von M. hat angeboten, die Schirmherrschaft für das Sommerfestival zu übernehmen. Also, bessere Kontakte kann man nicht haben! Bleibt nur die Unwägbarkeit, wie sich die Freifrau mit dem Dirigenten vertragen wird. Seine radikalen Thesen, je nach mentalem Zustand hitzig oder suizidal vertreten, haben bisher die meisten potentiellen Förderer verschreckt. Erst kürzlich hielt er dem Geschäftsführer der lokalen Sparkasse einen Vortrag zur Abschaffung des Geldes.

Endlich erscheint Luigi mit wehendem Mantel, die Probe kann beginnen. Jetzt geht es um Alban Berg und nichts als das! Mal nur das Trio estatico. Mal nur im viertel Tempo. Mal nur die Geigen. Mal nur die ersten Pulte. Mal nur jeder für sich mental. Mal nur die rhythmische Gestalt! Jetzt alle zusammen, die Töne sind erstmal egal…
Nächster Tag, Abendprobe. Der Dirigent ist in aufgekratzter Stimmung, das Niveau steigert sich beängstigend. Warum haben wir eigentlich noch sieben Proben? Was für eine Frage, wo wir gerade dabei sind, Musikgeschichte zu schreiben! Die Aufnahme wird den Namen des Orchesters in die Musikwelt hinauskatapultieren – es muss unverwechselbar, durchsichtig, strukturiert, intelligent, zukunftsweisend und hochwertig klingen. Die Probe erreicht jetzt die entscheidende Stelle. An ihr sind sämtliche Musiker der Welt gescheitert, aber wir kriegen mit unserer Lösung jetzt den Grandprix du disque. Man muss nur anders zählen, wir haben ja Zeit.

Übrigens, dass niemand vergisst, die Stühle nach der Probe wieder genau wie vorher hinzustellen, das Altersheim überlässt uns sonst den Festsaal nicht mehr. Weiß jemand noch, wie sie gestanden haben? Für morgen gibt es noch eine kleine Änderung, wir proben außerhalb von R. Es gibt genügend Autos, wenn wir Fahrgemeinschaften bilden. Ach so, wer fährt denn jetzt mit wem?

Fünf Tage später. Endlose Proben und das Konzert liegen hinter uns. Wir richten uns in einer kleinen Kirche am Stadtrand für die Aufnahme ein — im milchigen Dämmerlicht sind die Noten allerdings so gut wie überhaupt nicht zu sehen. Der Manager, der in maximalem Abstand zum Dirigent auf einer Kirchenbank sitzt, steht auf und verspricht, für Licht zu sorgen. Eine Ewigkeit später kommt er mit drei Halogenstrahlern zurück, die allerdings erst zusammengebaut werden müssen. Es bilden sich Arbeitsgemeinschaften um jeweils eine Lampe. Verpackungsmaterial und Kabel liegen zwischen abgelegten Instrumenten auf dem Boden, eine Verlängerungsschnur umwickelt den Hals eines Guarneri-Cellos wie eine Boa Constrictor.

Die Lampen der Geigen leuchten zuerst, aber sie hatten auch das einfachste Patent. Bei den Bratschen wird noch diskutiert, die Lampe der Celli scheint kaputt. Vielleicht sind aber auch Montageelemente der Bratschen- und Cellolampe durcheinander gekommen. Am besten, wir bauen beide Lampen nochmal auseinander und fangen von vorne an. Der Dirigent beschimpft währenddessen den Manager als Nichtsnutz und Versager, die Geigen fitzeln dazu ihre Stimmen im neu erstrahlten Lampenlicht vor sich hin. Irgendwann taucht der Küster im Eingang auf, er würde gern demnächst die Kirche zusperren.

Nächster Tag. Erfolg auf der ganzen Linie. Tagsüber werden die Lampen nicht gebraucht, es herrscht volles Sonnenlicht. Der Tonmeister navigiert gelenkig wie ein Tintenfisch durch die Stimmungskurve des Dirigenten, gegen Abend haben wir die Suite bis auf wenige Abschnitte vollständig aufgenommen. Den Rest schaffen wir mit Leichtigkeit am morgigen Vormittag. Heute Abend ist außerdem noch ein geheimer Zahlungstermin für diejenigen, deren Geduld mit der permanenten Managementkrise zu Ende ist – sie spielen nur noch gegen Cash. Die Auszahlung erfolgt diskret hinter der Kirchenmauer, atmosphärisch schwankend zwischen Gangster-Glamour und Verlegenheit.

Am nächsten Morgen finden wir uns frühzeitig ein, um den letzten Teil der Aufnahme in Angriff zu nehmen. Aus der Kirche tönen allerdings mühsame Chorgesänge, der Seiteneingang ist verschlossen. Ratlos stehen wir herum, als um die Ecke wütende Schreie hörbar werden und eine Autotür knallt. Mit quietschenden Reifen fährt der Dirigent an uns vorbei. In der Kirche findet heute ein Gottesdienst statt, wie angeblich immer schon angekündigt. Das Equipment des Tonmeisters säumt die singende Gemeinde, in einer Ecke hinter dem Altar stehen unsere Notenständer. Für die Produktion sind die Musiker von überall angereist, die meisten haben ihren Rückflug für den Nachmittag gebucht. Die Lyrische Suite mit dem Potential für den Grandprix du Disque bleibt also unvollendet. Das Material schlummert im Laptop des Dirigenten neben der empörten Korrespondenz mit dem Tonmeister.

Obwohl das Konzert ein voller Erfolg war, hat sich die Frau von der Deutschen Grammophon dann doch vor allem für die Stargeigerin interessiert. Dafür kam nach dem Konzert der vielversprechende Kontakt mit dem ehemaligen CDU-Landesvorsitzenden zustande – er liebt klassische Musik über alles und hat früher sogar selbst mal Geige gespielt. Vielleicht heisst er ja mit Vornamen Ludwig? Dann müsste man ihm nur noch das Leben und Sterben in der Kunst erklären.

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11 Kommentare

  1. Benita November 4, 2022 um 9:06 am Uhr - Antworten

    Wenn es nicht so traurig wäre wäre es lustig…

  2. Rebecca Elbs November 4, 2022 um 1:16 pm Uhr - Antworten

    Real life Bühnenalltag so gut und witzig beschrieben. Habe mich schlapp gelacht. Buchreif. Freue mich schon auf die nächste Freitagsnotiz.

  3. Rolf Freitag November 4, 2022 um 2:11 pm Uhr - Antworten

    … musste immer wieder loslachen. Ganz famos beschrieben. Das Künstlerleben ist schon ziemlich irre, aber im Unterschied zur Politik kann man es mit Humor akzeptieren.
    Dein Vater

  4. Meta Hueper November 4, 2022 um 3:32 pm Uhr - Antworten

    Liebe Eva, mal wieder voll aus dem Leben gegriffen…herrlich:-) welcher freischaffende Musiker findet sich da nicht wieder? Es ist schon irgendwie schräg, was wir da machen…

  5. Ilona November 5, 2022 um 1:35 am Uhr - Antworten

    Super! Genial zusammen gefasst! 🙂

  6. Barbara November 12, 2022 um 12:35 am Uhr - Antworten

    Großartig , liebe Eva !
    tragisches Atlantis .. wie vertraut mir das vorkommt… nach Jahrzehnten…

    • Eva Freitag November 12, 2022 um 9:50 am Uhr - Antworten

      Vielen Dank! … ja, Atlantis. Ein bisschen melancholisch stimmt es mich auch….

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